DEEPendencies sind der Nexus - Teil 4
Abhängigkeiten sind der Nexus in der Organisation von Gruppen und definieren, ob Strukturen durch Fremdaufsicht beherrscht oder von taktischer Selbstorganisation getragen werden.
„DEEPendencies“ ist der Shortcut einer populärwissenschaftlich gehaltene Zusammenfassung über Aufbau und Funktionsweise komplex adaptiver Gebilde, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.
Sie dient einem unkomplizierten Einstieg in die Welt von Systemtheorie und Kybernetik - Teil IV von VI
Die Steuerung der Asymmetrie
Systeme sind wahre Meister der Ertragsfähigkeit vor dem Hintergrund meist knapp bemessener Ressourcen.
Aufrechterhaltung und Entwicklung der Prozesse bedürfen einer Administration der Innen- und Außenverhältnisse, um im Wettbewerb mit Drittsystemen bestehen zu können.
Hierzu stehen den Systemen mehrere Mittel zur Verfügung, die alle im Zusammenhang mit Vielfalt stehen. Denken Sie an den Wanderer aus dem ersten Kapitel mit dem GPS-Tracker. Mit einem sehr vereinfachten Beispiel von Wasser lassen sich die Auswirkungen von Vielfalt gut beschreiben:
Eine kleine Menge (z.B. 1 Liter) an Wasser in einem Topf lässt sich leicht manipulieren. Wir könnten es am Herd erhitzen oder ausschütten. Egal welche Pläne verfolgt werden, die Menge an Wasser im Topf muss sich fügen, da der Mensch eine höhere Vielfalt (z.B. die Anzahl an Atomen) aufweist.
Etwas anders verhält sich die Sachlage in einem Meer von H2O. Der Schwimmer in einem Ozean ist den Naturgewalten (Strömungen, Wellen, etc.) meist hilflos ausgesetzt, weil nun die Flüssigkeit den Vorteil der Vielfalt besitzt und Abhängigkeiten evoziert.
Das simple Beispiel zeigt allerdings auch, dass sich der Umgang mit Vielfalt koordinieren lässt, indem Filter- oder Verstärkungsmechanismen zum Einsatz kommen.
Mit einem Wasserhahn lässt sich die umgebende Vielfalt so regulieren (filtern), dass die Menge an Wasser begrenzt und beherrschbar bleibt.
Auch Nichtschwimmer können Ozeane sicher erkunden, wenn man an den Bau von Booten denkt und eigene Fähigkeiten gegenüber dem Wasser verstärkt.
Management beruht gewissermaßen auf einer antizipativen Koordination von Vielfalt und diese ist der Schlüssel zur Lenkung oder Beeinflussung von Systemen. Beispiel gefällig?
Die Meisten von Ihnen wissen, was bei Freunden z.B. Freude oder Verärgerung auslöst, wenn man den/die Menschen nur gut genug „kennt“. Dieses akkumulierte Wissen ist ein Privileg an Information und derartige Vorteile sind z.B. auch die Grundlage von Wetterprognosen.
Was die Wettermodelle betrifft, so ist dem anfänglichen „Glückspiel“ der 50er Jahren mittlerweile eine Treffergenauigkeit von über 70% erwachsen. Das funktioniert, da moderne Server mittlerweile unglaubliche Kapazitäten bereitstellen, weshalb sich auch extreme Datenaufkommen speichern und bearbeiten lassen.
Es ist kein Zufall, dass die Rechner der Wetterdienste (neben denen der militärischen Einrichtungen) zu den Schnellsten der Welt zählen. Wettermodelle sind beispielhaft für den Umgang mit Vielfalt, da Unmengen an erhobenen Daten zu aussagekräftigen Informationen verarbeitet werden müssen.
Eine verlässliche Vorhersage benötigt u.a. Daten über die Gesetzmäßigkeiten der Atmosphäre, Luftbewegungen, den Einfluss der Erdrotation, Windrichtung, Windgeschwindigkeit, Umschichtung der Luftmassen in der Atmosphäre, etc., was mit einem Netz von Sensoren bewerkstelligt wird.
Der Trick besteht darin, den Globus in virtuelle Rastergitter der Sensorik einzuteilen. Einige dieser GRIDS (Netze) bilden die „Realität“ bis auf 100 Meter topografisch ab, sodass auch lokale Geschehnisse, wie Aufwinde an Hängen oder Verdunstungen über Wasserflächen in die Berechnung einfließen können.
Die ganze Welt wird zu einem Netz gemacht
Das gleiche Prinzip wird auch von vielen Diensten und Portalen (siehe Google, Facebook, Amazon, etc.) bei der Sammlung von Daten (Big Data) über Personen verwendet.
Umfangreich vernetzte Datensätze mobiler Kommunikation und dem „Internet der Dinge“ erlauben die Raster-Charakterisierung von Individuen auf dem GRID der Soziologie, was in den USA als „Social Physics“ bezeichnet wird.
„No small wonder“, dass demnächst nur noch Produkte erworben werden können, die vernetzte Datenträger repräsentieren.
Algorithmische Analysen an „Supercomputern“ ermöglichen nicht nur Wettervorhersagen, sondern auch antizipative Approximationen in einem gesellschaftlichen Kontext.
Voraussichtliches Verhalten von Einzelnen und Gruppen steht im Blickpunkt der Betrachtung. Datensammler werden zum besten „Freund“.
Der britische Psychiater William Ross Ashby (1903 – 1972), seinerseits ein Pionier der Kybernetik, beschrieb diesen Umstand schon in den 1950er Jahren und bezeichnete ihn als „Requisite Variety“; das Gesetz der erforderlichen Vielfalt.
Dieses Gesetz besagt, dass eine Steuerung von Systemen stets antizipative Handlungsalternativen erfordert.
Die Entscheidungen sollten so ausgeprägt sein, dass auftretende „Störungen“ im Umfeld entweder dominiert oder zumindest kompensiert werden können. Andernfalls droht Überlastung oder eine Kapitulation des Systems gegenüber seiner Umwelt.
Systeme sollten deshalb immer in der Lage sein, interne Vielfalt zu potenzieren oder externe Vielfalt zu filtern. Ziel ist es Überlastungen zu vermeiden. Meist gibt es eine zeitgleiche, bzw. überlagerte Vermischung beider Ausprägungen, wie sie auch bei modernen Navigationsgeräten Verwendung findet:
Solche Geräte besitzen einen TMC-Kanal, der den Informationsstand von Verkehrsteilnehmern potenziert und Staus zu umfahren hilft. Daten außerhalb der Fahrtroute werden allerdings ignoriert. Wenn man in Bayern unterwegs ist, benötigt man keine Stauinformationen aus Schleswig-Holstein.
Für das Überleben unserer „Wüstengruppe“ bedeutet dies, dass alle Entscheidungen über Strategie und Taktik, die Anzahl der Handlungsalternativen stets erhöhen sollten.
Ebenso sinnvoll ist es, die Teilnehmer generell vor schädigenden Umwelteinflüssen (Tageshitze, Nachtkälte, etc.) zu schützen.
Die Wirkung von Vielfalt
Die Koordination von Vielfalt ist keine einfache Aufgabe, da die Mächtigkeit von Komplexität meist nicht messbar ist. Analog zur Lichtgeschwindigkeit besitzt Vielfalt eine Relativität gegenüber einem Bezugssystem.
Die Relativität ist auch der Grund, weshalb man bei natürlichen Systemen nicht von einer direkt gezielten Steuerung ausgehen sollte. Der Begriff induziert eine mechanisch anmutende Lenkung, was die Messbarkeit von absoluten SOLL/IST Zuständen voraussetzen würde.
Bei Gruppen ist dies nicht möglich, weil der fraktale Aufbau und temporale IST/IST Zustände keine prädefinierten SOLLWERTE unterstützen, was für eine direkte Steuerbarkeit notwendig wäre. Es kann also keine mechanisch doktrinäre Führung auf „Knopfdruck“ geben, die auf einer Planung basiert.
Bei natürlichen Systemen ist es sinnvoller von Möglichkeiten einer indirekten Einflussnahme zu sprechen, wobei es keinen Unterschied macht, ob es sich um endogene (systeminternen) oder exogene (systemexternen) Formen der Lenkung handelt.
Das Prinzip findet quasi überall Verwendung. Die Machbarkeit der Einflussnahme resultiert aus der strukturellen Kopplung zwischen Systemen und Habitat. Systeme können daher auch Drittsysteme im Habitat beeinflussen, indem schlichtweg Umweltparameter verändert werden.
Das „Spiel“ mit der Vielfalt funktioniert, weil Systeme und Habitat (aufgrund struktureller Kopplung) eine gemeinsame Koevolution durchlaufen und per se bereits Abhängigkeitsbeziehungen bestehen.
Sie erinnern sich vielleicht noch an das Beispiel mit dem Kreis auf dem Blatt Papier?
Die Koordination von Einfluss entspringt allerdings keiner Planung, sondern einem Trial-and-Error Prinzip. Versuch und Irrtum sind hierbei opportune Verhaltensweisen von Anpassung, indem eine Alternation der Vielfalt von Umweltbedingungen im Habitat verfolgt wird. Was ist damit gemeint?
Entgegen der Auffassung vieler Manager ist die Erzeugung von Produkten in Unternehmen nicht das Ziel systemischer Tätigkeit, sondern eine Konsequenz machbarer Prozesse. Leistungen sind Derivate oder „Abfälle“ von Rückkopplungszyklen die meist, sollten sie keine Eigenverwendung finden, aus einem Systemverbund ausgeschieden werden.
Es kann passieren, dass der „Abfall“ einen verwertbaren Nutzen für Dritte im Umfeld generiert und für ein vorteilhaftes Milieu des Systems im Habitat sorgt. Die Gestaltung von Ausschuss unter der Vorgabe von Kundenbedürfnissen ist z.B. eine opportune Einflussnahme von Vielfalt der Umwelt.
Dabei kann die Veränderung von Vielfalt unterschiedliche Wirkungen der Abhängigkeitsbeziehungen auslösen. Die Einflussnahme artikuliert sich durch die Ausprägung von Zuständen der Bezugssysteme in den Formen von Kooperation, Unterwerfung (Kapitulation), Isolation oder Elimination.
Kommen wir kurz auf unser Anfangsbeispiel der Wanderer zurück:
Die Bereitschaft zu einer Kooperation ist groß, falls Überlagerungen von Interessen und Information bestehen. Wanderer können kooperieren und gemeinsam nach dem richtigen Weg fahnden, falls sich deren Vielfalt auf einem ausgewogenen Niveau befindet.
Sollte einer der fünf Wanderer ein GPS-gestütztes Navigationsgerät besitzen, verfügt er über einen Vorteil im Habitat der eine Kooperation überflüssig macht.
Die Dominanz an Vielfalt kann Dependenz ermöglichen, die zu einer Unterwerfung oder Isolation der restlichen Wanderer führen könnte.
Letztendlich obliegt es dem GPS-Wanderer zu entscheiden, wer sich ihm und dem richtigen Weg anschließen dürfte. Abenteuerlustige könnten es aber auch (im Sinne von Kontingenz) vorziehen selbst nachhause zu finden.
Es wäre auch denkbar, dass sich die vier Wanderer absprechen und das GPS Gerät zum Wohle Aller konfiszieren und die vorherrschende Dominanz durch den Vorteil der Muskelkraft eliminieren.
Nichtsdestotrotz unterliegen die Einflüsse von Vielfalt den situativen Bedingungen und individuellen Betrachtungsebenen der jeweils beteiligten Akteure. Verantwortlich für die relative Ausgangslage ist das systemische Konstrukt selbst, weshalb wir dieses nochmals in Augenschein nehmen wollen:
Gruppen oder natürliche Systemen sind Ansammlungen von individuellen Elementen, die einen gemeinsamen Sinn und Zweck mittels Vernetzung verfolgen. Der Verweis auf die Individualität deutet auf die Autonomie der beteiligten Einheiten hin.
Die Gebilde bestehen aus einer Vielzahl unterschiedlichster Charaktere, wobei die Teilnehmer selbst autonome Systeme von individueller Vielfalt (Komplexität) darstellen.
Dabei dient dieses „System im System-Prinzip“ der Entwicklung (Emergenz) kollektiver Eigenschaften und Fähigkeiten, welche die Qualität der Begabung isolierter Individuen weit übertreffen können.
Das konstitutionelle Problem derartiger Superorganismen besteht darin, dass alle Akteure (als System) über eine spezifische Identität und Form der Kommunikation verfügen. Unterschiedliche Niveauebenen von Erziehung, Bildung und Erfahrung sorgen für eine gegenseitige Abgrenzung.
Systemtheoretisch betrachtet, besitzen alle Beteiligten eine eigene Kultur. Teilnehmer und Kollektiv nehmen sich deshalb auch als autonome Einheiten und Umwelten wahr.
Infolge ureigener Identität und Form der Kommunikation gelten die intrinsischen Prozesse der Akteure als operational geschlossen und Strukturdeterminiert. Das mag kompliziert klingen, ist aber dennoch ganz einfach zu verstehen.
Alle wahrgenommene Reize oder Veränderungen der Umwelt können nur anhand eigener Prozesse und den damit verbundenen Strukturen interpretiert werden.
Aufgrund einer individuellen Deutung kann z.B. ein spezifisch-konkreter Stimulus unterschiedliche Reaktionen der Akteure hervorrufen.
Im nächsten Kapitel geht es u.a. um den Einsatz und die Mechanismen von Vielfalt und welche Auswirkungen daraus auf die Vernetzungsbeziehungen entstehen. Zum Weiterlesen klicken Sie bitte folgenden Link zu Kapitel Fünf.
Text by Anton Seidl; Source and Credits to:
Ludwig von Bertalanffy, William Ross Ashby, Heinz von Foerster, Margaret Mead, Anthony Stafford Beer, George Spencer-Brown, Warren McCulloch, Walter Pitts, Arturo Rosenblueth, Norbert Wiener, Gregory Bateson, Julian Bigelow , Paul Lazarsfeld, Kurt Lewin ,Humberto Maturana, Francisco Varela, Stuart Kauffman, Alfred Radcliffe-Brown , Talcott Parsons, Hermann Haken, Niklas Luhmann, Fritz B. Simon;